In der Medizin dominieren evidenzbasierte Routinen und Arzneimittel. Das heißt, es liegen belastbare wissenschaftliche Studien vor. Außerdem gibt es Empfehlungen, die aus langjährigen Praxiserfahrungen von Experten resultieren, die aber studienmäßig nicht erfasst sind. Eine ähnliche Situation ist in der nachhaltigen Hautpflege anzutreffen.
Unter Evidenz versteht man belegte Fakten, die nach Stand der Technik eindeutig sind. In den Naturwissenschaften werden dazu Beweise und Studien herangezogen, die einem hohen Qualitätsstandard entsprechen. Letzteres ist nicht selbstverständlich; viele Studien sind fehlerhaft – ein Grund übrigens, dass Nobelpreise sehr spät verliehen werden. Allerdings gibt es auch in der Medizin Nischen, denen die wissenschaftliche Evidenz fehlt. Prominente Beispiele sind homöopathische Präparate. Das heißt jedoch nicht unbedingt, dass sie nicht oder nur als Placebos wirken.
Leitlinien
In der Medizin werden geprüfte Studien in Leitlinien zur Behandlung von Krankheiten und zur medizinischen Versorgung erfasst. Sie werden von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) veröffentlicht.1 Eine parallele, bescheidenere apothekenorientierte Sammlung für die Dermatologie und Hautpflege wird z. B. von der Gesellschaft für Dermopharmazie e. V. herausgegeben.2 Unabhängig davon kursieren Studien zu kosmetischen Wirkstoffen und Behandlungen, die von Universitäten und Herstellern initiiert und in einschlägigen Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Am häufigsten sind darin die sogenannten Cosmeceuticals vertreten, die sich an der Grenze zwischen Dermatologie und Kosmetik bewegen.
Erfahrung & Studie
Anwendungsbeobachtungen sind häufig der Anlass, wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen und Befunde zu verifizieren. Vielfach bleibt es aber bei der Praxiserfahrung – man könnte auch sagen dem erworbenen Fachwissen – weil es sich um eine scheinbare Selbstverständlichkeit handelt, kein Interesse seitens der Wissenschaft besteht oder die Kosten für eine Studie zu hoch sind. Die Nutzung einer Praxiserfahrung kann genauso wertvoll sein wie die Orientierung der praktischen Arbeit an einer Studie oder Leitlinie. Effektivität und Kundennutzen werden dadurch in der kosmetischen Praxis erhöht und zahlen sich durch Kundentreue und Mundpropaganda aus.
Praktisches Beispiel
Die Wirkung von Vitamin C und anderer Antioxidantien auf freie Radikale ist gesichert (evident). Doch ist es in der Praxis nicht immer sinnvoll, Radikale zu vernichten, z. B. bei einer heilenden IR-Bestrahlung oder nach einem Sonnenbrand, weil in diesen Fällen Radikale endogen erzeugt werden und der körperlichen Regeneration dienen. Das bedeutet, nicht nur nach schwarz oder weiß zu entscheiden, sondern die gegebene Situation differenziert zu betrachten. Ähnlich ist es bei der Chemotherapie. Die Bildung von Radikalen wird absichtlich durch ein Medikament induziert, um damit die Krebszellen zu attackieren. Hohe Dosierungen von Antioxidantien in Form von Nahrungsergänzungsmitteln, die unter anderem auch über Institute vertrieben werden, sind dann kontraproduktiv.
Behandlung ohne Nebenwirkungen
An der Melaninbildung der Haut sind ebenfalls Radikale beteiligt. Topisch angewandte Antioxidantien können daher die Pigmentbildung unterdrücken. Allerdings ist die freie Ascorbinsäure, um beim Beispiel Vitamin C zu bleiben, aufgrund ihrer Instabilität gegenüber Luftsauerstoff, dazu wenig geeignet. Dies gilt auch für die Vor- und Nachbehandlung im Verlauf von Laseranwendungen, bei der Pigmentierungen als unerwünschte Nebenwirkung auftreten können. Im Gegenteil, Ascorbinsäure erzeugt durch ihre Zersetzung braune Verfärbungen. Auch hier hilft eine Praxiserfahrung, die darin besteht, den liposomal verpackten Phosphatester der Ascorbinsäure (INCI: Ascorbyl Phosphate) vorher und nachher zu verwenden, um die Pigmentierung der behandelten Hautareale vollständig zu unterbinden.
Praxisbeobachtung
Fortbildungsseminare dienen nicht nur der Vermittlung neuen Wissens seitens der Vortragenden, sondern darüber hinaus auch dem Austausch von Erfahrungen untereinander. So wurde vor rund zwanzig Jahren von Seminar-Teilnehmerinnen über die erfolgreiche Anwendung eines Echinacea-Extrakts in Kombination mit einer lamellar aufgebauten Barrierecreme bei Couperose-Kundinnen berichtet – eine Beobachtung, die später von anderen Instituten bestätigt wurde. Praxiserfahrungen initiieren Produktoptimierungen und nachhaltige Behandlungen. In diesem Fall führte es zur Beschäftigung über die Couperose hinaus mit dem Thema Rosacea.
Unerwartete Nebenwirkungen
Ein interessanter Aspekt lamellar aufgebauter Pflegeprodukte, die physikalisch und größtenteils chemisch eine ähnliche Struktur wie die Lipiddoppelschichten der Haut aufweisen, sind ihre Depoteigenschaften. Praktische Erfahrungen haben bei längerem Gebrauch gezeigt, dass daraus Dosisreduzierungen resultieren können, z. B. bei Verwendung des temporär faltenreduzierenden Spilanthols. Pharmazeutische Rezepturen, in denen Hormone verarbeitet werden, zeigen ein ähnliches Verhalten. Andererseits werden bei wiederholter Verwendung und intensivem Verteilen Hauterscheinungen wie etwa weiche und derbe Fibrome sowie seborrhoische Keratosen vermindert oder ganz zum Verschwinden gebracht – eine Erkenntnis, die bis dato nicht bekannt war.
Placebo-Effekte
Eine prinzipielle Schwierigkeit bei der Validierung und Weitergabe von Praxiserfahrungen sind personengebundene Einflüsse, die dadurch entstehen, dass derjenige, der eine Empfehlung ausspricht besonders überzeugend wirkt. Die Einstellung des Empfangenden wird dann im positiven Sinne beeinflusst. Dieser Effekt wird auch bei der Durchführung von Studien beobachtet, wenn sie diesbezüglich nicht korrekt durchgeführt werden, und als Verzerrung (engl.: Bias) bezeichnet. Mit anderen Worten: Es wird eine anteilige Placebo-Wirkung erzeugt. Allerdings: Was für eine Studie nicht akzeptabel ist, kann im Institut ein durchaus wünschenswerter Effekt sein. Insbesondere in Problemfällen, wo die Psyche der Behandelten eine Rolle spielt – bei stressbedingten Hautausschlägen etwa – kann dies hilfreich sein. Ein Effekt, der auch in der praktischen Medizin von großer Bedeutung ist, aber durch die kurze Taktung in der Sprechstunde immer mehr in den Hintergrund gerät. Hier ist die Kosmetikerin insofern in einer besseren Ausgangslage als ihr die schwerverständliche medizinische Fachsprache nicht eigen ist und sie während der Behandlung Zeit für das Gespräch hat.
Nocebo-Wirkungen
Selbstverständlich finden neben den Placebo- auch Nocebo-Wirkungen statt, wenn über einen Stoff aus subjektiver Sicht negativ geurteilt wird. Ein typischer Fall ist Alkohol in der INCI – selbst, wenn er in niedriger Konzentration bereits beim Auftragen verdunstet. Dann kann es schon mal vorkommen, dass ein Teil der Institutskunden ein Produkt nicht akzeptiert. Gleiches gilt für den Fall, dass Tagescremes mit Sonnenschutzfiltern als Nonplusultra und alles andere als nicht ausreichend dargestellt werden. Im Übrigen werden im Pharma-Bereich gerne entsprechende Informationen gestreut, wenn es um Seeding Trials geht, also um Anwendungsbeobachtungen inklusive Umfragen, die dem Marketing dienen. Sie beeinflussen naturgemäß das Ergebnis, insbesondere bei Vergleichen von Medikamenten untereinander.
Erfahrungsaustausch
Aus Herstellersicht sind Praxiserfahrungen in der Kosmetik eine wertvolle Basis, um die Optimierung von Produkten und nachhaltigen Behandlungen voranzutreiben. Umgekehrt ist es genauso wichtig, fast fertige Entwicklungen vor der Markteinführung zwecks Praxiserfahrung an die Institute auszugeben, um gegebenenfalls nicht bekannte Eigenschaften von Präparaten zu ermitteln. Damit verbunden kann ein umfassender fachlicher Austausch sein, der dem Knowhow der Institute zugutekommt.
Links
1) https://www.awmf.org/leitlinien 2) https://www.gd-online.de/german/persoenlich/leitvorstand.htm
Dr. Hans Lautenschläger |